Funktionen von Verschwörungserzählungen und -ideologie
Der Glaube an Verschwörungserzählungen knüpft an verschiedene soziale und psychische Bedürfnisse an und erfüllt gleichzeitig eine deutliche politische und auch ökonomische Funktion:
Bedürfnis des Strebens nach Kontrolle und Verstehen:
Menschen suchen vor allem in Krisenzeiten, wenn sie Angst haben, die Kontrolle zu verlieren oder sich ohnmächtig fühlen, nach Strategien, um mit diesen privaten oder gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen. Der Glaube an Verschwörungserzählungen oder -ideologien kann solch eine Strategie sein: Die Verschwörungserzählung erklärt vermeintlich die Welt und die Krise wird dadurch begreifbar. Wer an geheime Strippenzieher:innen glaubt, hat nicht nur eine Erklärung für das Geschehen, sondern zugleich eine:n Schuldige:n. Die Welt wird (wieder) verständlich und geordnet – in ‚die da oben‘, ‚wir hier untern‘ und in ‚sie, die Bösen‘, ‚wir, die Guten‘. Verschwörungserzählungen ordnen also das Geschehen, sei es im Privatem (z. B. bei Arbeitsplatzverlust) oder bei globalen Realitäten (z. B. Fluchtbewegungen oder Pandemie). Menschen, die dazu neigen sich Verschwörungserzählungen zuzuwenden, vermuten oder interpretieren absichtliches Handeln und gezielte Pläne auch hinter solchen Ereignissen, die nicht geplant oder von ‚denen da oben‘ organisiert werden. Sie glauben, die Welt zu verstehen – und was verstanden wird, macht weniger Angst.
Bedürfnis nach positiver Selbstwahrnehmung:
Darüber hinaus bestärken Verschwörungserzählungen das Gefühl ‚die Wahrheit zu sehen‘ und ebenso die Vorstellung, den ‚Unwissenden‘ etwas voraus zu haben, sowie besonders zu sein. Verschwörungserzählungen können somit den eigenen Selbstwert erhöhen. Insbesondere Menschen, die neben anderen Faktoren ein starkes Bedürfnis verspüren, sich als einzigartig wahrzunehmen, neigen dazu, an Verschwörungserzählungen zu glauben. Sie sehen sich als die ‚Wissenden‘ (und ‚die Guten‘), während die anderen, die im Nichtwissen verharren, die ‚Schlafschafe‘ sind, die den Regierungen/den Mächtigen und/oder den Medien blind hinterherlaufen. Oder sie stilisieren die Anderen selbst als Teil der Verschwörung und damit per se als ‚die Schlechten‘. „Menschen glauben also auch deswegen an Verschwörungen, weil sie sich dadurch besser fühlen können.“ (Lamberty 2020)
Instrument politischer Machtausübung:
Von diesen sozialen und psychischen Funktionen, die Verschwörungserzählungen für deren Anhänger:innen haben, muss das politische Machtinteresse derer, die Verschwörungserzählungen in die Welt setzen, unterschieden werden:
Ob Donald Trump, QAnon, Daniele Ganser oder andere Verschwörungsideolog:innen, egal, ob sie wie QAnon und Ganser behaupten, nur Fragen zu stellen, oder ob sie das Gerücht vom Wahlbetrug in die Welt setzen: mit diesen Verschwörungsideologien setzen diese Personen Erzählungen in die Welt, die mit knallharten politischen Interessen verknüpft sind.
Während einzelne übergreifende Verschwörungserzählungen wie der ‚Große Austausch‘ als extrem rechte antidemokratische Propaganda identifiziert werden können, ist dies bei anderen Verschwörungserzählungen, beispielswiese im Kontext der Pandemie, nicht immer offensichtlich der Fall. Das Problem ist, dass auch vermeintlich harmlose Verschwörungserzählungen als Brücken zu extrem rechten Ideologien dienen können. Wer heute der Auffassung ist, dass die Beschränkungen während der Corona-Pandemie überzogen sind und das Virus in Wirklichkeit nicht so schlimm sei, stellt womöglich morgen wissenschaftliche Ergebnisse zur Pandemie grundsätzlich infrage, unterstellt den Regierenden unangemessenen Machtmissbrauch oder stellt die Sinnhaftigkeit von Demokratie und freien Wahlen infrage. Anhänger:innen von Verschwörungserzählungen neigen dazu, erst an ein Phantasma zu glauben und morgen an ganz viele. Nicht nur völkisch-autoritäre Verschwörungserzählungen stellen ein Problem für Individuen und die Gesellschaft dar, auch vermeintlich harmlose Verschwörungserzählungen, wie von Heilsteinen (Siehe Welche sind aktuell relevant? » Esoterische Verschwörungserzählungen). Katharina Nocum und Pia Lamberty gehen im Buch ‚Gefährlicher Glaube‘ der Esoterikbranche auf den Grund und machen deutlich, wie entsprechende Erzählungen in den antidemokratischen Sumpf führen und wie mit dem Verkauf von Heilsteinen und mit Horoskoperstellungen Millionen verdient werden. Dies führt nicht nur zu individuellen Schädigungen, beispielswiese wenn Krebserkrankte Schamanen aufsuchen (Siehe Welche sind aktuell relevant? » Gesundheitsbezogene Verschwörungsideologien). Die Autorinnen zeigen auch auf, wie rassistisches Gedankengut anschlussfähig ist an esoterische Lehren. Eine Unterscheidung von problematischen und harmlosen Verschwörungserzählungen ist deshalb nicht angebracht.
Funktion ökonomische Interessen:
Bei dem Schweizer Verschwörungsideologen Daniele Ganser – und er ist nicht der Einzige – liegt neben seinem ideologischen Antrieb noch ein anderes Interesse zugrunde: Mit seinen Veranstaltungen vor einem großen Publikum und mit seinen Publikationen verdient er sehr viel Geld. Das Publikum lauscht ihm aufmerksam, während er subtil andeutet, dass die Bevölkerung Fremdeinflüssen unterliegt. Dabei verwendet Ganser eine Strategie, bei der er durch gezielte Fragen Zweifel schürt und so eine Grundlage für Verschwörungserzählungen legt, ohne selbst direkte Verantwortung zu übernehmen. Er führt seine Zuhörer:innen manipulierend dazu, scheinbar eigenständig Schlussfolgerungen zu ziehen, die in Wirklichkeit seine eigenen Vorstellungen widerspiegeln.
Quellen und weiteführende Links:
Lamberty, Pia. (2020) Verschwörungserzählungen. BPB: Info aktuell 35/2020. (Abruf: 27.11.24)
Nocun, Katharina/Lamberty, Pia (2022): Gefährlicher Glaube – Die radikale Gedankenwelt der Esoterik, Köln
